Grafik: ThongSam/Shutterstock.com
Was tun, wenn klassische Hierarchien nicht mehr greifen – und trotzdem geführt werden muss?
In IT-Organisationen ist das längst Alltag: Fach-Expert:innen übernehmen Verantwortung, leiten Projekte, treiben Entscheidungen – ohne disziplinarische Macht. Laterale Führung wird damit zur Schlüsselkompetenz moderner IT-Strukturen.
Yvonne Poul, systemische Coachin und Unternehmensberaterin mit über 12 Jahren Erfahrung im IT-Bereich begleitet Führungskräfte und Organisationen genau in diesen Fragen. Im LSZ-Interview spricht sie über blinde Flecken, starke Tools und den Unterschied zwischen Reden und Führen.
Expert Leadership: Wenn Fachwissen nicht mehr reicht
„Viele Fach-Expert:innen übernehmen längst Führungsverantwortung – ohne es bewusst zu merken“, sagt Poul. In cross-funktionalen IT-Teams entstehen Führungsaufgaben jenseits der Linienorganisation. Doch: „Fachwissen allein reicht nicht mehr. Es fehlt oft an der Fähigkeit, über gemeinsame Ziele zu motivieren, klar zu kommunizieren oder konstruktiv mit Konflikten umzugehen.“
Laterale Führung – oder wie Poul es nennt: Expert Leadership – setzt genau hier an. Es geht darum, das eigene und das Wissen anderer wirksam zu machen, Perspektiven zu integrieren und tragfähige Lösungen zu entwickeln.
„Kleine bis große Technologie-Organisationen, mit denen ich arbeite, stehen heute vor der Frage: Wie halten wir unsere Expert:innen, wenn nicht alle in die disziplinarische Führung wollen – oder sollen? Viel zu lange war die Führungsrolle der einzige Weg zur Weiterentwicklung. Das hat dazu geführt, dass Menschen in Führungspositionen sitzen, denen entweder die Leidenschaft oder die Kompetenz fehlt – oder beides. Und das ist völlig in Ordnung: Nicht jede:r muss führen. Aber jede:r muss wirksam werden dürfen.“
Was es brauche, seien alternative Karrierepfade und eine Aufwertung der Fachkarriere und somit das Vertrauen, dass Führung auch ohne Linie gelingen kann, so Poul. Denn: „Führung ist keine Frage der Position – sondern der Haltung.“
Zuhören ist kein Soft Skill, sondern Führungspraxis
„In der IT herrscht oft Exzellenz in der Tiefe – aber es fehlt die Brücke zur Führung. In meiner Arbeit mit Expert Leaders höre ich oft als Herausforderung: Ich muss lernen, meine eigene Expertise zurückzunehmen – und der Expertise anderer Raum zu geben.“ (Yvonne Poul)
Eine zentrale Fähigkeit, die in der IT oft unterschätzt wird, ist laut Poul ganz simpel – aber selten konsequent praktiziert: wirksame Kommunikation. „Kommunikation ist mehr als Reden. Gerade wenn verschiedene Fach-Expert:innen zusammenarbeiten, glauben zwar alle, dass sie vom Gleichen sprechen – tun es aber oft nicht. Ich habe das selbst in großen Website-Projekten erlebt. Es reicht schon, wenn wir im Team über Werte oder Zusammenarbeit sprechen – und alle sagen „Transparenz“ oder „Augenhöhe“. Klingt super, aber ich nenne das die „Bullshit-Ebene“: Es klingt gut, ist aber nicht greifbar.“ Erst wenn Begriffe konkretisiert werden, entsteht echte Zusammenarbeit.
TIPP: Ein Tool, das sie besonders empfiehlt, um Perspektivwechsel zu ermöglichen: die 6 Thinking Hats von Edward de Bono. Sie helfen, Diskussionen zu strukturieren und unterschiedliche Sichtweisen sichtbar zu machen – ohne sofort zu werten. Jeder „Hut“ steht für eine Denkweise: Fakten, Emotionen, Risiken, Chancen, kreative Ideen oder die Steuerung des Prozesses. Gerade in IT-Teams hilft das, Diskussionen zu entschärfen, Denkimpulse zu geben und gemeinsam weiterzukommen – statt sich im Fach-Denken zu verlieren.
Führung beginnt mit Selbstführung
Gerade in der IT erleben viele, wie schwer es ist, Verantwortung zu teilen. Poul beobachtet: „Viele Expert:innen tun sich schwer, Verantwortung abzugeben – erwarten aber, dass andere sie übernehmen.“ Laterale Führung heißt auch, Verantwortung zu ermöglichen – und das bedeutet, loslassen zu können.
Dazu gehört die ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken, Grenzen und Motivationsfaktoren. „Führung beginnt mit Selbstführung – und die basiert auf ehrlicher Reflexion“, so Poul.
Motivation in der IT: Warum wir tun, was wir tun
Wie kann man andere motivieren? Die Antwort Pouls: „Die moderne Motivationswissenschaft zeigt klar - wir können Menschen nicht direkt motivieren, aber wir können sie sehr wohl demotivieren.“ Entscheidend ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Motivation wachsen kann: Sinn stiften, Vertrauen aufbauen, Verantwortung ermöglichen. „Wer keine disziplinarische Macht hat – und übrigens auch jene, die sie haben – muss über Relevanz führen: Warum ist dieser Standard sinnvoll? Was steht auf dem Spiel? Und was hat das Team davon?“
TIPP: Ein wirksames Konzept - Start with Why. Statt Regeln zu verordnen, hilft es, gemeinsam den Zweck zu klären – und die unterschiedlichen „Warums“ der Beteiligten sichtbar zu machen. Gerade in Security-Projekten sei das entscheidend: „Technische Vorgaben müssen in eine gemeinsame Sprache übersetzt werden.“
IT-Kultur beginnt im Gespräch
„Die Wahrnehmung der IT als notwendiges Übel zu einem strategischen Enabler ändert sich nicht von selbst – sie entsteht durch Kommunikation. Für mich heißt das: zuhören statt nur informieren, erklären statt verordnen, mitdenken statt abwarten.“ (Yvonne Poul)
Der Wandel von der „notwendigen IT“ zum strategischen Enabler gelingt laut Poul durch aktives Zuhören: echtes Interesse, Nachfragen, Beteiligung. „Ich erinnere mich gut an die Einführung eines Demand-Prozesses für neue Tools im letzten Unternehmen, in dem ich gearbeitet habe. Anfangs mühsam, später eine riesige Erleichterung – weil wir verstanden hatten, was der Prozess uns abnimmt. Genau darum geht es: Nicht nur Vorgaben kommunizieren, sondern zuhören, verstehen und daraus gemeinsam Sinn machen.“
Ihr TIPP: die Haltung eines Growth Mindsets. Also nicht: „So ist das halt in der IT“, sondern: „Wie kann ich selbst Einfluss nehmen für eine positive Aufwärts-Dynamik?“ Es sind diese Haltungsfragen, die Kultur formen – und damit letztlich Führung.
Positive Leadership in der IT – ja, das geht
Positive Leadership mag auf den ersten Blick nicht zur risikogetriebenen Welt von IT und Security passen. Poul widerspricht: „Gerade dort funktioniert es besonders gut.“ Denn es gehe nicht darum, Risiken kleinzureden oder zu ignorieren, sondern den Blick zu weiten: auf Chancen, auf Stärken, auf Sinn. Poul weiter: „Positive Leadership arbeitet mit einer UND-Verknüpfung – Risiken UND Chancen sehen, Schwächen UND Stärken, Probleme UND das, was schon gut läuft.“
Wir sind oft im Negativen gefangen und haben verlernt, gezielt auf das Positive zu schauen. Eine einfache Frage kann schon viel verändern: Wo funktioniert unser System, unser Tool, unser Prozess bereits gut – und was können wir davon auf andere Bereiche übertragen? „Das ist nicht naiv, sondern wirksam,“ so Poul.
Positive Leadership heiße auch, stärkenorientiert zu führen: „Menschen dort einsetzen, wo sie ihre Stärken wirklich ausspielen können – das ist nicht nur motivierend, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll.“
Ein Gedanke zum Mitnehmen:
„Laterale Führung gibt es nicht erst seit gestern. Aber sie wird zur Schlüsselkompetenz der Zukunft. Wer sie beherrscht, kann auch ohne formale Macht wirksam führen: Klarheit schaffen, Verantwortung ermöglichen, Menschen verbinden. Nicht durch Macht – sondern durch Haltung, Kommunikation und echte Beziehung.“ (Yvonne Poul)
Laterale Führung ist längst mehr als ein Buzzword – sie ist eine gute Antwort auf die Realitäten moderner IT-Organisationen. Dort, wo Hierarchien an Grenzen stoßen, braucht es Menschen, die ohne formale Macht Klarheit schaffen, Verantwortung ermöglichen und andere mitnehmen. Nicht durch Anweisung, sondern durch Haltung, Kommunikation und Beziehung.
Oder wie Yvonne Poul es auf den Punkt bringt: „Führung heißt für mich: zu erkennen, was jede:r Einzelne braucht, um wirklich aufblühen zu können – und den Raum dafür offen zu halten.“
Laterales Leadership bedeutet nicht weniger Führung – sondern eine bewusstere, wirksamere Art, sie zu leben. Gerade in technologiegetriebenen, komplexen Umfeldern kann genau das den entscheidenden Unterschied machen.
Mehr zu Leadership-Themen gibt es beim FUTURE OF WORK-Kongress von 21.-22. Mai in Bad Loipersdorf. Jetzt Ticket sichern!