Die Idee eines „selbstfahrenden Staates“ scheint auf den ersten Blick futuristisch und fast utopisch. Doch in einer Zeit, in der die Europäische Union das Once-Only-Prinzip vorantreibt und KI-Systeme wie ChatGPT breite Anwendung finden, wird es zunehmend relevant, über die Automatisierung und Digitalisierung der Verwaltung nachzudenken. Ein „selbstfahrender Staat“ ist kein politisches Programm, sondern ein Denkmodell, das darauf abzielt, Effizienz und Gerechtigkeit in der Verwaltung zu maximieren, indem es die technologischen Möglichkeiten unserer Zeit voll ausschöpft. Es basiert auf einem Stufenmodell, das von analogen über digitale und automatisierte bis hin zu voll autonomen Systemen reicht.
Stufen der Evolution: Vom analogen zum selbstfahrenden Staat
Der Weg zu einem selbstfahrenden Staat folgt einem stufenweisen Ansatz, der an die Autonomiestufen selbstfahrender Fahrzeuge angelehnt ist:
- Analoger Staat: In dieser Phase ist die Verwaltung noch vollständig papierbasiert. Anträge werden auf Papier eingereicht und Entscheidungen auf dieselbe Weise kommuniziert. Viele Prozesse sind zeitaufwendig und anfällig für Fehler. Dies entspricht dem traditionellen Modell der Bürokratie, das durch Menschenkraft und manuelle Dateneingabe bestimmt wird.
- Digitaler Staat: Auf dieser Stufe werden bereits 80 % der staatlichen Daten digital gespeichert und sind sowohl syntaktisch als auch semantisch durch Software verständlich. Das bedeutet, dass Computerprogramme nicht nur einfache Daten wie Adressen korrekt erkennen, sondern auch kontextuelle Unterschiede, etwa zwischen einer privaten und einer geschäftlichen Adresse, interpretieren können. Das Ziel ist es, Informationen so zu verarbeiten, dass sie für verschiedene Verwaltungsprozesse effizient genutzt werden können.
- Automatisierter Staat: Hier werden 80 % der End-to-End-Prozesse – von der Erfassung eines Antrags bis zur abschließenden Entscheidung – automatisiert abgewickelt. Ein Beispiel ist die automatisierte Bearbeitung von Steuererklärungen: Die Steuerbescheide werden digital zugestellt und die Rückerstattungen automatisch angewiesen. Die Automatisierung solcher Prozesse spart Zeit und Kosten und minimiert menschliche Fehler.
- Selbstfahrender Staat: Auf dieser höchsten Evolutionsstufe treffen lernende Algorithmen, oft als „künstliche Intelligenz“ bezeichnet, die meisten administrativen Entscheidungen autonom. Der Übergang zu einem selbstfahrenden Staat würde eine umfassende Modernisierung der Verwaltungsstruktur erfordern, wobei alle drei Staatsgewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – digitalisiert und automatisiert werden. Gesetze könnten in Form von „Digitalen Zwillingen“ verabschiedet werden, die bereits während ihrer Entstehung von Software-Systemen auf ihre rechtliche Korrektheit überprüft werden.
Technologie als Schlüssel zur Effizienzsteigerung
Ein guter Vergleich für das Verständnis des selbstfahrenden Staates ist das selbstfahrende Auto. Heute befinden wir uns in einer analogen Verkehrssteuerung, in der Fahrer selbstständig Entscheidungen treffen und auf Verkehrsschilder reagieren müssen. Für einen vollständig autonomen Straßenverkehr müssten diese Informationen jedoch digitalisiert und in Echtzeit verfügbar gemacht werden, um von selbstfahrenden Fahrzeugen verstanden und genutzt zu werden. Genauso wie selbstfahrende Autos weltweit auf standardisierte Daten der Verkehrsinfrastruktur angewiesen sind, müsste ein selbstfahrender Staat über standardisierte, digitalisierte Verwaltungsdaten verfügen, die jederzeit abrufbar sind.
Ein konkretes Beispiel hierfür wäre die Schaffung eines digitalen Gesetzeszwillings der Straßenverkehrsordnung in Österreich. Wenn diese Daten in Echtzeit bereitgestellt würden, könnten Fahrzeughersteller ihre KI-Systeme entsprechend anpassen und so autonome Fahrzeuge sicherer und effizienter auf den Straßen bewegen. Der Vorteil für die Bürgerinnen und Bürger wäre ein reibungsloser, sicherer Verkehr ohne menschliche Fehler wie Rasen oder Unachtsamkeit.
Das Once-Only-Prinzip: Daten nur einmal einreichen
Ein zentraler Baustein für den Übergang zum selbstfahrenden Staat ist das sogenannte Once-Only-Prinzip, das bereits von der EU gefördert wird. Dieses Prinzip besagt, dass Bürger und Unternehmen ihre Daten nur einmal an staatliche Stellen übermitteln müssen. Sobald relevante Informationen – etwa eine Schwangerschaft – erfasst sind, können automatisch alle erforderlichen Folgeprozesse ausgelöst werden, wie die Einladung zu einer Mutter-Kind-Beratung oder die Gewährung von Familienbeihilfen. Das reduziert den Verwaltungsaufwand und erhöht die Effizienz der Verwaltung erheblich.
Vertrauen und Transparenz als Grundlage
Eine Grundannahme des Modells „selbstfahrender Staat“ ist das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen und deren Regeln. Die Bürgerinnen und Bürger stellen dem Staat bereits heute viele Daten zur Verfügung, zum Beispiel durch Melderegister oder Grundbücher. Der Unterschied im selbstfahrenden Staat wäre die vollständige Vernetzung dieser Daten, um bessere, transparentere und nachvollziehbare Entscheidungen treffen zu können. Entscheidungen könnten auch personalisiert werden, etwa durch einkommensabhängige Verkehrsstrafen, die sowohl fairer als auch effektiver wären.
Herausforderungen und Chancen
Der Übergang zu einem selbstfahrenden Staat stellt uns vor viele Fragen, insbesondere in Bezug auf Datenschutz, Ethik und die Kontrolle durch die Bevölkerung. Die Integration künstlicher Intelligenz in staatliche Entscheidungsprozesse erfordert eine sorgfältige Balance zwischen Effizienz und Schutz der Privatsphäre. Zugleich bietet dieses Modell eine nie dagewesene Chance zur Entbürokratisierung, zur Schaffung menschenzentrierter Arbeitsplätze und zur Stärkung einer transparenteren und gerechteren Verwaltung.
Anstelle einer restriktiven, undurchsichtigen Bürokratie könnten intelligente Algorithmen Entscheidungen objektiv und auf Basis klar definierter Regeln treffen. Dieser Ansatz könnte nicht nur Korruption minimieren, sondern auch die Zufriedenheit der Bürger erhöhen, da die Verwaltungsprozesse schneller, nachvollziehbarer und gerechter werden.
Fazit: Ein neues Zeitalter der Verwaltung
Der selbstfahrende Staat bleibt eine visionäre Idee, doch die technologischen Fortschritte der letzten Jahre lassen diesen Zukunftsentwurf realistischer erscheinen als je zuvor. Die Herausforderung liegt nun darin, die nötigen rechtlichen, organisatorischen und technischen Grundlagen zu schaffen, um dieses Potenzial zu nutzen. Die Transformation zu einer autonomen Verwaltung erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein „selbstfahrender Staat“, der im Sinne des Volkes agiert und durch das Volk definiert wird, könnte der nächste große Schritt in der Evolution moderner Demokratien sein.
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