Eine Verteidigung des Ungeplanten in Zeiten perfekter Optimierung
„Nicht der Mangel an Ordnung, sondern das Fehlen von Überraschung macht das Leben unerträglich.“ - Theodor W. Adorno
Effizienz statt Esoterik – der Zufall als Ausrede für mangelnde Struktur
Die romantisierte Vorstellung vom Zufall als Quelle der Kreativität verkennt die Realität moderner Wertschöpfung. In Zeiten globaler Krisen, Lieferengpässen und sich wandelnder Arbeitsmärkte brauchen Unternehmen keine „ungeplanten Gelegenheiten“, sondern belastbare Systeme. Künstliche Intelligenz und algorithmische Steuerung ermöglichen es, Komplexität beherrschbar zu machen und Fehler zu minimieren – und genau das schafft Freiräume für Kreativität, aber auf Basis von Klarheit und Struktur. Der Ruf nach mehr „Zufall“ klingt oft wie ein nostalgisches Echo auf vergangene Zeiten, in denen Planlosigkeit als Charme durchging. Doch im Wettbewerb zählt Verlässlichkeit. Der Zufall mag inspirieren – aber Innovation entsteht heute vor allem dort, wo gezielt geforscht, simuliert und getestet wird. Nicht im Zufall, sondern in der Wiederholbarkeit liegt die wahre Stärke nachhaltiger Entwicklung.
KI als Dompteurin des Unerwarteten?
So entwickelt sich Künstliche Intelligenz (KI) immer weiter zu einer treibenden Kraft in vielen Branchen. Je stärker KI in Entscheidungsprozesse eingebunden wird, desto stärker wird das Unerwartete ausgeblendet. Was entsteht, sind Muster, Vorhersagen, Optimierung, Effizienz, vermeintliche Perfektion – alles basierend auf Wahrscheinlichkeiten.
Diese Entwicklung ist per se nichts schlechtes, stellt uns aber vor neue Herausforderungen. Wer sich zu sehr auf KI-basierte Optimierung verlässt, verliert womöglich jene organischen Prozesse, die Innovation fördern – Trial-and-Error, Reibung, Umweg.
Es gilt also einen kulturellen Kontrapunkt zu setzen, nicht KI oder technische Entwicklung zu vermeiden oder zu verteufeln. Denn nicht jedes „Optimierungspotenzial“ ist ein Gewinn – manchmal ist der Umweg das Ziel.
Ordnung ist Macht – aber auf wessen Kosten?
Was passiert, wenn wir alles optimieren und perfektionieren? Künstliche Intelligenz, algorithmische Entscheidungsfindung und Prozessoptimierung versprechen Effizienz, Präzision und Planbarkeit. Was früher der Inspiration, dem Bauchgefühl oder einem „zufälligen Gespräch in der Kaffeeküche“ überlassen war, wird heute datenbasiert und workflow-integriert abgebildet. Die Maschinen lernen, Muster zu erkennen – und wir verlernen dabei vielleicht das Hinterfragen.
Hinterfragen wir doch mal: Was geht verloren, wenn der Zufall verschwindet?
Der blinde Fleck der Effizienzlogik
In den klassischen Strategien zur digitalen oder nachhaltigen Transformation – wie etwa in der „Triple Transition“ oder den Circular Economy Roadmaps – ist der Begriff „Zufall“ nicht vorgesehen. Das überrascht nicht: In Systemen, die auf Planbarkeit und Kontrolle ausgelegt sind, wird der Zufall als Risiko betrachtet – nicht als Ressource.
Dabei zeigt sich gerade im unternehmerischen Alltag, dass viele Innovationen, Kooperationen oder gar Geschäftsmodelle nicht aus strategischen Meetings, sondern aus „ungeplanten“ Momenten hervorgehen. Der berühmte Post-it-Kleber, das Mikrowellengerät oder Penizillin: alle wurden durch Irrtümer, Umwege oder Zufälle entdeckt.
Was jetzt? Spannungsfeld Beständigkeit und Veränderung
Im Kontext von Künstlicher Intelligenz wird das Spannungsfeld zwischen Beständigkeit und Veränderung besonders deutlich: KI steht für maximale Planbarkeit, Wiederholbarkeit und Kontrolle – sie schafft neue Formen der Beständigkeit in einer volatilen Welt. Doch gerade dadurch gerät das Unerwartete, das Zufällige unter Druck. Und genau hier beginnt die eigentliche Spannung: Wenn Algorithmen immer präziser prognostizieren, wird das System stabiler – aber auch starrer. Der kreative Bruch, der unerwartete Impuls, die überraschende Einsicht drohen verloren zu gehen. Veränderung, im Sinne von echter Innovation, braucht jedoch oft genau das: das Nicht-Vorhersehbare. KI kann Stabilität liefern – aber wenn sie den Zufall aus dem System drängt, gefährdet sie langfristig die Fähigkeit zur Erneuerung. Zwischen diesen Polen gilt es heute neu zu verhandeln: Wie viel Beständigkeit brauchen wir, um Vertrauen zu schaffen – und wie viel Unordnung dürfen wir zulassen, um lebendig zu bleiben?
Serendipity – den Zufall nicht nur dem Zufall überlassen
In Kooperation mit KI braucht es– so paradox es klingen mag – Strukturen für das Unstrukturierte. Das beginnt bei Raumgestaltung (Stichwort „Serendipity Architecture“) und geht weiter über partizipative Formate, offene Innovationsräume und cross-funktionale Teams bis hin zu Entscheidungsspielräumen, die nicht algorithmisiert werden.
Dabei hilft ein Blick auf die „Inner Development Goals“ (IDGs), wie sie etwa IKEA oder Google einsetzen. Dort steht nicht das optimale Ergebnis im Vordergrund, sondern die innere Reifung von Mitarbeitenden – durch Reflexion, Empathie und bewusste Beziehungspflege. Werte, die nicht berechnet werden können – und genau deshalb zentral sind. Je mehr wir uns also für eine bewusste Integration der technischen Möglichkeiten entscheiden, desto mehr sollten wir also auch Raum bewusst geben für die Zufälle, Serendipitäten und ungeplanten Überraschungen.
Ordnung durch Unordnung
In einem gesunden Wald wächst nicht alles nach Plan – sondern in Vielfalt. Gefallene Bäume schaffen Lichtungen, in denen Neues entsteht. Moose bedecken alte Stämme, Pilze vernetzen die Wurzeln unsichtbar unter der Erde. Es ist gerade das scheinbare Chaos, das Stabilität schafft. Der Wald kennt keine Excel-Tabelle – aber er kennt Resilienz.
Was bedeutet das für KMUs in Österreich?
Gerade kleine und mittlere Unternehmen haben eine Chance, dem Trend zur totalen Optimierung zu widerstehen. Während große Konzerne auf Effizienz und Skalierung setzen (müssen), können KMUs einen anderen Weg gehen: den Weg der sozialen Intelligenz, der experimentellen Formate, des bewusst gepflegten Zufalls. Das mag auf den ersten Blick weniger wirtschaftlich erscheinen – aber auf lange Sicht entstehen hier widerstandsfähige, kreative und menschliche Organisationen.
Fazit: Der Zufall ist keine Störung – er ist ein Prinzip des Lebendigen.
Wer ihn systematisch ausschließt, baut tote Organisationen. Wer ihn pflegt, kultiviert Kreativität und Resilienz – nicht trotz, sondern mit KI.
- Welche strukturierten Zufallsräume gibt es in meinem Unternehmen und wie oft entstehen dort tatsächlich neue Ideen?
- Wo in meinen Prozessen ist „Fehlervermeidung“ zur Ideenkillerin geworden und was würde passieren, wenn ich eine Zone für „sichere Irrtümer“ schaffen würde?
- Welche Entscheidungen habe ich in letzter Zeit nicht getroffen, weil Daten gefehlt haben – obwohl mein Bauchgefühl sehr klar war?
- Und wie gehe ich mit diesem Gefühl um, wenn die KI mir widerspricht?
- Wie viel Raum haben meine Mitarbeitenden für echte Reflexion – nicht im Sinne von „Korrektur“, sondern im Sinne von innerem Wachstum?
- Wie können wir „Serendipity“ in unsere Geschäftsmodelle einbauen – nicht als Zufall, sondern als Möglichkeitsstruktur?
Fotocredit: Shutterstock/MIA Studio