Von der alten zur neuen Ökonomie: Europas Industriesystem im Stress
Zwischen Stahl und Chips, Baukrise und KI-Investitionen: Die europäische Wirtschaft steht an einem Kipppunkt. Was früher industrielle Stabilität versprach, leidet heute unter Preisdruck, Investitionszurückhaltung und geopolitischer Unsicherheit. Und doch: Es gibt Lichtblicke.
Chefökonom Stefan Bruckbauer zeichnete beim CIO Kongress 2025 ein schonungsloses Bild der aktuellen Situation. Gleichzeitig formulierte er eine vorsichtige, aber notwendige Perspektive: Wer in Innovation, Infrastruktur und Technologie investiert, kann in der neuen Ökonomie bestehen. Voraussetzung: realistische Erwartungen, strategischer Mut und gesellschaftliche Standfestigkeit.
Kernbotschaft: Europas industrielle Mitte droht zu kippen
Während die Halbleiterproduktion weltweit boomt, stagniert die Stahlproduktion auf dem Niveau von vor sechs Jahren. Europa, insbesondere Deutschland und Österreich, droht den Anschluss zu verlieren. Zwar erholen sich einige Sektoren (z. B. Pharma, Elektronik), doch Maschinenbau, Bauwirtschaft und Kfz-Branche bleiben unter Druck. Die Stimmung in Industrie, Bau und Einzelhandel ist auf einem Tiefpunkt.
Inflation: Psychologisch wirksamer als faktisch begründet
Zwar sinkt die Inflation langsam, doch der Schock sitzt tief - auch, weil er medial und politisch verstärkt wurde. Die Österreicher:innen konsumieren zurückhaltend, die Sparquote ist hoch, Investitionen bleiben aus. Besonders spürbar ist der Rückgang im Bau. „Wir erleben gerade eine Realwirtschaft, die sich trotz aller Gegensteuerung kaum erholt.“
Auftragseingänge: Europa verliert den Export-Rhythmus
Einkaufsmanagerindizes unter 50 zeigen klar: Die Auftragseingänge gehen zurück. China und die USA treiben den Welthandel, Europa bleibt außen vor. Einzig Asien zeigt in den jüngsten Monaten zarte Erholungssignale. Dennoch: Die Investitionsdynamik in Österreich bleibt gebremst, viele Unternehmen fahren auf Sicht.
Strukturelle Kostenkrise: Der Inflationsschock wirkt nach
30 % höhere Lohnstückkosten gegenüber 2019 bei öffentlichen Unternehmen, sinkende Gewinnquoten, fehlende Preisdurchsetzung im Export: Österreich leidet unter einem massiven Margendruck. Die Kombination aus überhastetem Strompreisdeckel, inflationsgekoppelten Löhnen und steigenden Mieten hat die Preisbasis dauerhaft verschoben. Das führt zu drastischen Einsparprogrammen.
Zinsdynamik: Die lange Kurve steigt - nicht wegen der Notenbanken
Während die EZB bei stabiler Inflation wenig Spielraum für Zinssenkungen sieht, steigen die langfristigen Kapitalmarktzinsen. Hauptgrund sind nicht etwa Produktivitätsfortschritte durch KI, sondern die expansive Fiskalpolitik vieler Staaten. Wenn Investoren Zweifel an der Unabhängigkeit der Notenbanken bekommen, fordern sie Risikoaufschläge - mit langfristigen Folgen für Investitionen.
USA vs. Europa: Zwei Welten der Produktivität
Während die US-Wirtschaft seit 20 Jahren konstant um rund 2 % pro Jahr wächst, kommt Europa nur auf etwa 1,2 %. Entscheidend dafür: Investitionen in Technologie und Software. Die USA investieren 66 % ihrer F&E-Ausgaben in Tech und Software, Europa lediglich 8 %. Gleichzeitig hält Europa an seiner KFZ-Fixierung fest. „Die neue Ökonomie wird nicht auf vier Rädern rollen.“
Geopolitik und Deindustrialisierung: Europa unter Strom
Die grüne Transformation stockt, Energiepreise bleiben hoch, der industrielle Umbau kommt nicht vom Fleck. In Kombination mit geopolitischen Unsicherheiten und einem sich verändernden US-amerikanischen Handels- und Geldpolitikregime steht Europa unter erheblichem Anpassungsdruck. Die Folge: Deindustrialisierung in Grundstoffindustrien ist nicht nur wahrscheinlich, sondern bereits im Gange.
Was jetzt zu tun ist: Produktivität statt Panik
Der Appell von Bruckbauer ist eindeutig: Wer langfristig bestehen will, muss jetzt strategisch investieren: in Technologie, Infrastruktur und Qualifikation. Dazu gehört auch eine mutige Industriepolitik und das Erkennen der Realitäten: Österreich und Europa müssen den Strukturwandel aktiv gestalten, statt ihn zu beklagen.
"Vorsichtiger Optimismus": Zukunft braucht Investitionsmut
Trotz aller Krisen betont Bruckbauer: „Wir haben Gaspreisverzehnfachung und Pandemie überstanden - wir überleben auch das.“ Die Voraussetzung: Europa muss aufhören, auf Amerika zu warten oder auf China zu hoffen. Es braucht eine Strategie für eine resiliente, technologieorientierte und produktive Ökonomie. Das Fenster dafür ist offen, aber es schließt sich schnell.
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